10.05.2019 – Zeilen, die du niemals lesen wirst

Mir schwirrt der Kopf. Tausend Gedanken und Millionen Gefühle wechseln sich im Sekundentakt ab.

Dieser Tag ist einer der wenigen Tage, an denen Entscheidungen von besonderer Tragweite getroffen werden. Einer der intensiven Achterbahntage, die aus weitaus mehr als nur aus 24 Stunden zu bestehen scheinen.

Die letzten Tage und Nächte waren für uns alle anstrengend. Für dich mehr als für uns. Diese unendliche Hilflosigkeit, dich vor Schmerzen brüllend im Arm zu halten und nichts tun zu können, da wir dir alle Schmerzmittel bereits gegeben haben, die uns zur Verfügung stehen. Diese Ohnmacht und der unbändige Wunsch, dass doch alles nur gut sein soll, egal, wie. Einfach nur gut.

Der Besuch des Palliativteams heute hat uns nun Sicherheit gegeben. Das Team hat uns mit weiteren Schmerzmitteln und einem Notfallmittel gegen Krämpfe versorgt. Du wirst keine Schmerzen mehr haben müssen. Wir sind jetzt mit allem ausgestattet, um auch die ganz schlimmen Schmerzattacken abfangen zu können.

Der Arzt hat uns den Befund mitgebracht. Es ist gut, dass wir die Bilder schon gesehen haben, so hatten wir Zeit, unseren Frieden mit allem zu machen. All das, was wir geahnt und teilweise bereits gesehen haben, hat sich genau so bestätigt. Deine Poschmerzen haben nun einen offiziell bestätigten Grund. Es ist bizarr, wie befreiend es sein kann, wenn man die Endlichkeit so klar vor Augen hat und sich von dem ständigen Hoffen und Bangen lösen kann. Auch unsere Gedanken dürfen nun endlich zur Ruhe kommen. 

Als ich mich aus diversen Selbsthilfe- und Austausch-Gruppen abmelde, in denen ich im Laufe der letzten Jahre eingetreten bin, fühlt es sich ein wenig wie Verrat an dir an. Doch das ist es nicht. Wir geben dich nicht auf – nein, im Gegenteil, wir geben dich frei. Du hast genug durchgemacht. 

Wir werden dich nächste Woche aus dem Kindergarten abmelden. Du wirst diesen Tag bestimmt feiern – endlich bist du diesen Zwang los. Ich bin auf deine Reaktion gespannt, wenn wir es dir sagen werden. Nun hast du das, was du dir so lange schon gewünscht hast: ganz viel Urlaub und freie Spielezeit daheim. Mit uns, mit Lego, mit Freude. Heute erst hast du uns gesagt, dass du keinen Bock auf die Schule und die Schulpflicht hast. Wir werden dir die schönste Schultüte aller Zeiten schenken. Prall gefüllt mit all den Sachen, die du dir von Herzen wünschst. Und dann wirst du nur noch Ferien haben. Keine Schulpflicht, kein neuer Zwang.

In der letzten Zeit hast du oft vor dem Spiegel gestanden und dein Gesicht betrachtet. Hast deine Augen miteinander verglichen, deine schlaffe Mundseite und die Wange mit den Fingern bewegt, weil sie sich nicht von allein bewegen wollen. Ich ahne, was dabei in deinem Kopf vor sich geht und ich bin nun froh, dass dir die Hänseleien erspart bleiben werden. Kinder können so furchtbar grausam sein, und du bist so feinfühlig…

Es ist gut so, wie es ist. Du hast uns in den sechs Jahren, die du unser wundervolles Kind bist, mehr über uns und das Leben gelehrt als wir in unseren 40 Jahren gelernt haben. Du hast vielleicht deine Aufgabe damit erfüllt. Wir können dich nicht zwingen, dein Leben hier weiter zu leben. Vielleicht hast du andere Aufgaben. 

Während ich diese Zeilen schreibe zieht die Erkenntnis mir das Herz zusammen, dass du all diese Worte niemals lesen wirst. Angefangen habe ich den Blog vor so vielen Jahren. Mit dir kleinem Würmchen auf dem Arm. Und nun bist du ein so großer Junge, der uns so unendlich viel beigebracht hat. Du hast unzählige Herzen berührt, hast ebenso viele Menschen zum Nachdenken über die tatsächlich wichtigen Dinge des Lebens gebracht und hast so manches Weltbild gerade gerückt. Wer von uns Erwachsenen kann das schon von sich behaupten? 

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5 Kommentare zu „10.05.2019 – Zeilen, die du niemals lesen wirst

  1. Ihr lieben. Ich wünsche euch die Kraft, die ihr braucht, um für Konrad da zu sein. Die Kraft, die ihr braucht, um euch nicht zu vergessen. Die Kraft, um das letzte Stück mit Konrad gemeinsam zu gehen. Oh Gott, ist das traurig. Es gibt keine Worte. Ich fühl tiefste Empathie mit euch, zu euch, für euch. Für euren Weg, der schon lange da ist und den ihr jetzt bewusst gehen werdet. Ich werde in Gedanken bei euch sein.

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  2. Liebe Konradfamilie,
    Konrads Leid erschüttert mich, Euer Leid erschüttert mich, und gerade deshalb bin ich voller Bewunderung für Eure Stärke, die Ihr nun schon so lange zeigt. Ich wünsche Euch noch eine schöne Zeit miteinander an die Ihr schließlich gerne zurückdenkt.
    Eure Louise

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  3. Ihr Lieben, ich denke immer wieder an euch und leide mit. Fühl mich euch sehr verbunden seit wir uns in Heidelberg kennengelernt haben. Ganz liebe Grüße und eine Umarmung aus der Ferne von Melanie mit Winston und Lilian.

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  4. Oh nein, ich bin gerade so traurig, Hoffe, dass ich mit meinem vorherigen Kommentar Euch nicht zu weh getan habe, da ich es leider nicht mitbekam. Fühlt euch einfach nur lieb gedrückt. Von Herzen viel Kraft und Mut.

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