Die nächsten zwei Wochen ziehen wir fast komplett durch. Nur an den beiden Sonntagen haben wir frei.
Jetzt beginnt es, für dich zunehmend anstrengend zu werden. Vor allem in Kombination mit der wöchentlichen Chemo.
Dazu kommen deine alterstypischen Entwicklungsschritte. Eine teils explosive Mischung.
Im Aufwachraum massakrierst du mich fast mit einem Beutel, weil ich keine Brezel dabei habe. Du bist ein Brezeljunkie!
Nach dem Aufwachen durchwühlst du meine Tasche, einen Tag vorher war da eine Brezel für dich drin – als du nur das mitgebrachte Obst findest, drehst du dich zu mir um und schreist mich voller Zorn an. So etwas kannte ich von dir bisher noch nicht.
Du brüllst so laut, dass wirklich jeder narkotisierte Patient aufwacht. Eine Schwester meint augenzwinkernd, das sei ganz gut so, bei manchen wäre das Aufwachen schon längst überfällig.
Ich ziehe dich an und trete mit dir die Flucht nach vorn an. Besser gesagt: die Flucht nach oben in die Cafeteria. Dort kaufe ich dir eine Brezel in der Tüte. Kaum hast du die Tüte in der Hand und das Objekt der Begierde darin entdeckt, lachst du so laut und schon fast übertrieben, dass sich alle nach uns umdrehen.
Das ist mir eine Lehre, für morgen sorge ich vor. Wenn du so erpicht darauf bist, sollst du von nun an jeden Tag deine „Narkosebrezel“ bekommen.
Wir starten zur letzten Bestrahlung der ersten Hälfte.
Als du nach der Propofolspritze einschläfst und ich dich auf die Liege lege, darf ich dieses Mal bei dir bleiben. Ich sehe zu, wie du die Maske angelegt bekommst, zugedeckt und auf der Liege fixiert wirst. Die Bestrahlung ist so unspektakulär wie beeindruckend. Die ganze Technik im Hintergrund, das Zusammenspiel aller Programme, die Genauigkeit der Ausrichtung – während du ganz ruhig auf der Liege schläfst. Man sieht nichts und hört nichts und doch wird immer wieder ein Strahl in deinen Kopf geschossen, der jedem eventuell doch noch vorhandenen klitzekleinen Tumorfitzelchen den Rest geben soll.
Im Aufwachraum schläfst du heute länger als sonst. Deine heißbegehrte Brezel liegt schon parat als du aufwachst. Dieses Mal gibt es kein Geschrei, sondern ein breites Grinsen in deinem Gesicht.
Anschließend gehen wir in die Tagesklinik zur wöchentlichen Chemo.
Zum Glück geht heute alles schneller als letzte Woche, als wir über zwei Stunden auf den Beutel mit der Chemo warten mussten.
Letzte Woche waren deine Blutwerte noch halbwegs stabil. Jetzt sind sie wieder deutlich am Sinken. Außerdem lichten sich deine inzwischen schon gar nicht mehr ganz so kurzen blonden Haare bereits wieder…
Auf dem Heimweg bist du völlig fertig. So fertig, dass du am Nachmittag noch eine Runde Schlaf brauchst.
Am Abend weinst du viel und beginnst zu würgen, doch nach Zofran geht es dir bald schon wieder so gut, dass du dein Abendbrot essen kannst.
Bergfest, Halbzeit. Ich glaube, die zweite Hälfte wird sich gefühlt länger hinziehen.
Wir werden einen langen Atem brauchen.