Am Morgen verzichtest du notgedrungen auf dein Frühstück, denn für das CT musst du nüchtern sein.
Wieder stehen wir um neun Uhr vor dem Kinderplaneten und geben deinen Bruder in die Betreuung ab.
Und wieder gehen wir zu dritt in die Ambulanz, wo wir auf den Kinderonkologen warten. Die Wartezeit will ich nutzen und mit dir auf die Toilette gehen, doch alle Besuchertoiletten sind außer Betrieb. Als ich endlich eine zugängliche Patiententoilette finde, schrecke ich kurz zurück. Doch da dir deine Blase drückt, habe ich keine andere Wahl. Auf Zehenspitzen weiche ich den breitgetretenen Kotflecken aus und achte peinlichst darauf, in der engen Toilette nichts zu berühren.
Nach deinem Geschäft ziehe ich dich draußen auf dem Flur richtig an, dort ist es sauber und ich kann dich ruhigen Gewissens auf den Boden stellen.
Wir gehen wieder zu Papa, der gerade im Gespräch mit dem Kinderonkologen ist. Beide besprechen die Notwendigkeit des Zuganges, Papa teilt ihm mit, was uns gestern von den Anästhesisten gesagt wurde. Der Arzt hält jedoch eine Rücksprache mit den Strahlentherapeuten für überflüssig und den Zugang weiterhin für erforderlich. Wir erwähnen noch einmal, dass du bisher immer das Kontrastmittel über den Hickman bekommen hast und es nie Probleme gab. Dennoch besteht der Arzt auf den Zugang – und wir geben uns geschlagen. Er ist der Fachmann, er wird es schließlich besser wissen.
Du liegst auf der Liege, während dir der Arzt die Nadel in die rechte Hand sticht und weinst herzzerreißend. Nach dem Fixieren des Zuganges nimmt er Blut ab, da die Anästhesisten vor Beginn des CTs drei Werte (Kreatinin, Harnstoff, TSH) benötigen.
Der Termin für das CT und die Maskenanpassung ist für 10:45 Uhr festgesetzt, doch wir sind bereits um 10 Uhr vor Ort und machen die Anmeldung. In der nächsten Viertelstunde werden wir dreimal nach den Blutwerten gefragt und warum sie noch nicht übermittelt wurden, wo sie doch dringend erwartet werden. Woher sollen wir wissen, warum sie noch nicht angekommen sind?
Wir warten – erst vor dem CT-Raum, dann im Spielezimmer. Es ist 10:45 Uhr und damit unser Termin erreicht, ohne dass ein Ende des Wartens absehbar ist. Du hast inzwischen Hunger und Durst, doch wir können dir noch immer nichts geben. Glücklicherweise lässt du dich mit all den Spielsachen gut ablenken. Du rutschst auf einer kleinen Rutsche, setzt dich abwechselnd auf Traktor, Dreirad und Rutschauto. Du spielst mit Bausteinen, einer kleinen Gitarre und Spielzeugtieren und läufst alleine sicher von einer Ecke des Raumes in die andere.
Ich weiß nicht, wie oft ich auf die Uhr schaue. Inzwischen ist unser Termin eine Stunde überfällig und noch immer warten wir. Endlich wird ein Gitterbett mit deinem Namen an der Seite über den Flur gerollt und die Anästhesistin begrüßt dich. Sie ist eine sehr herzliche und doch toughe Frau, die völlig fassungslos deinen Zugang bemerkt. Sie ist maßlos empört über die unnötige Quälerei und dass schon wieder ihre Anweisung ignoriert wurde. Sie hätte in der Vergangenheit schon mehrfach die Ärzte explizit darauf hingewiesen, dass ein Kind mit Hickman bitte keinen zusätzlichen Zugang bekommen solle – in allen den Jahren, die sie seit Anbeginn der Strahlentherapie hier zugebracht hat, war der Zugang noch nie nötig gewesen.
Noch während sie uns das alles sagt, nimmt sie sich das Telefon und ruft bei den Schwestern an. Später erfahren wir, dass sie hinterher noch einmal direkt mit dem zuständigen Arzt telefonierte, der sich jedoch komplett uneinsichtig zeigte und kurzerhand auflegte.
Wir gehen mit dir zum CT, wo du auf Papas Schoß für die Narkose vorbereitet wirst. Du bekommst Propofol gespritzt und die Anästhesistin weist Papa darauf hin, dass er dich gut festhalten soll, es könne jetzt schnell gehen. Keine drei Sekunden nach der Spritze sackt dein Kopf plötzlich zur Seite und dein überraschter Papa kann ihn gerade noch auffangen.
Wir lassen dich zurück und warten.
20 Minuten später werden wir aufgerufen und können mit dir in den Aufwachraum gehen. Wir sitzen in einem kleinen Separee, während du die Zeit für deinen Mittagsschlaf nutzt. Du hättest sicher noch länger geschlafen, wenn ich dich nicht gegen 14 Uhr behutsam geweckt hätte. Aber immerhin wartet Justus im Kinderplaneten auf uns.
Nach den Aufwachen hast du einen Mordshunger und Riesendurst und machst dich über deinen Proviant her, den du binnen kürzester Zeit verputzt.
Wir bekommen den vorläufigen Therapieplan, auf dem jede Sitzung der nächsten 6 Wochen aufgeführt ist. Die Ärztin macht aus Kulanz zwei Samstagstermine, damit die zwei Montage, die wegen Wartungsarbeiten ausfallen, kompensiert werden. Somit müssen wir nicht noch länger als unbedingt notwendig hier vor Ort bleiben. Laut Plan ist deine letzte Bestrahlung am 26.11. – wir hoffen, dass tatsächlich an dem Tag deine Behandlung beendet ist und keine Zwischenfälle eine Verschiebung erfordern.
Während ich mit dir noch einmal in die Ambulanz gehe, holt Papa Justus ab, der gerade im Spiel versunken ist. Ihm gefällt es so gut im Kinderplaneten, dass es seiner Meinung nach sogar besser als im Kindergarten ist.
In der Ambulanz wird dein Verband gewechselt und der Katheter geblockt. Ich bin überrascht, dass die Schwester alles alleine machen will – daheim übernehmen das immer zwei Schwestern. Als sie den Katheter wieder verpackt, verstehe ich, warum das hier alleine machbar ist.
Bisher war dein Katheter immer schön kompakt am Bauch verpackt gewesen. Es konnte nichts verrutschen, alles war sauber und dicht. Jetzt klebt die Schwester dir ohne sterile Handschuhe ein transparentes Pflaster direkt auf die Austrittsstelle, der Schlauch selbst liegt frei in einem Netz, das sie dir wie eine Bauchbinde anzieht. Ich finde das alles sehr gewöhnungsbedürftig und bin mir nicht sicher, ob ich mich mit dieser Art anfreunden kann.
Zu viert gehen wir noch eine Runde spazieren und Justus knipst, so wie gestern, mit seiner Kamera alles, was er interessant findet.
Als wir uns am Abend die Bilder anschauen, müssen wir schmunzeln: ein Frachtschiff auf dem Neckar, ein Mauseloch am Wegesrand, ein geflicktes Loch im Zaun des Zoos, ein Fahrradschloss an einem Baum, ein Braunbär, ein vorbeifliegender Hubschrauber, Gänse am Ufer, das Hochbett in der Jugendherberge, ein Selbstporträt mit Zahnbürste vor dem Hochbett, … Seine ganz eigenen Impressionen von Heidelberg.
Zum Abendessen gibt es in der Jugendherberge Nudeln mit Tomatensoße – Justus jubelt und springt vor Freude im Viereck. Beim Essen stellt er mit ernster Miene fest: „Das ist das erste Essen in Heidelberg, das mir schmeckt!“